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  • Adrian Nagel

Gipfel des Lebens: Mit drei Generationen auf dem Glärnisch



“Von dort oben, vom Gipfel des Glärnisch werden wir nächstes Jahr hier herunter schauen; Du und ich und Deine beiden Söhne!” Das sagt mein Vater, der grad kaum fähig ist, zehn Meter zu gehen ohne nach Luft schnappen zu müssen.

Foto: Theo Meier

“Jetzt ist es zu spät zum operieren”

Vor fast 10 Jahren wurden bei meinem Vater eine Mitralklappeninsuffizienz diagnostiziert. Das bedeutet, dass eine Herzklappe nicht mehr dicht ist und Blut in die Lunge zurückläuft. Die Ärzte rieten ihm, in ein paar Jahren wieder zu kommen, da der Defekt noch zu klein sei, um operieren zu müssen. Ein paar Jahre später ging er zur Kontrolle, da hiess es: “Jetzt ist es zu spät – der Defekt ist zu gross zum operieren.” Also arrangierte er sich mit der Situation und lebte damit.

Das ging gut bis im Jahre 2015 – dann konnte sein System diesen Defekt nicht mehr kompensieren und schon die kleinste Anstrengung brachte meinen Vater an die Grenze. Schon nach ein paar Schritten musste er nach Luft ringen und sein Puls spielte verrückt. Wieder der Gang zum Arzt – und nun hiess es: “Sie haben Glück: Die Operationstechnik hat Fortschritte gemacht und wir können jetzt doch operieren.”

Nach 10 Schritten am Limit

Zwei Tage vor dieser Operation habe ich ihn besucht. Wir sassen in seinem Garten in Üerikon am Zürichsee. Es war ein wunderschöner Tag Anfang Mai und die Berge formten ein wunderbares Panorama. Im Vordergrund bot mein Vater ein Bild des Elends; Er, der früher immer so fit und energiegeladen gewesen war, konnte kaum 10 Schritte gehen, bevor er nach Luft japste. Ich wusste, wenn ich mich heute von ihm verabschieden würde, dann musste ich mit allem rechnen; es war nicht selbstverständlich, dass sein Herz diese Operation wirklich verkraften würde.

Doch genau dann zeigte mein Vater über den See auf die Berge und äusserte seinen Wunsch, mit Sohn und Enkeln den Glärnischipfel zu ersteigen.

Zerbrochene Träume neu entdeckt

Eine kurze Rückblende: Mein Vater war früher ein begeisterter Bergsteiger. Die Kombination von Stille und Abenteuer, aus Liebe zur Natur und körperlich-mentaler Herausforderung, das war seine Leidenschaft. Ein grosser Wunsch von ihm war es, diese Leidenschaft mal mit seinen Kindern teilen zu können. Doch als die Zeit langsam kam, in der wir hätten gemeinsam die Gipfel besteigen können, kam auch eine Zeit der Krise, die zur Folge hatte, dass unsere Familie zerbrach. Wir verloren unsere innige Beziehung und irgendwie blieb dieser Traum auf der Strecke. An diesem Tag am Zürichsee, den ungewissen Ausgang einer Herzoperation einerseits und die Schönheit der Berggipfel andererseits vor Augen stieg dieser Traum wieder aus der Tiefe des Herzens empor.

Es gibt Situationen im Leben, wo man sich plötzlich wieder erinnert an verschüttete Träume. Dies kann zur Quelle neuer Kraft werden. Ein Traum, eine Herzenssehnsucht, , eine Mission, die mit Leidenschaft verknüpft ist, kann eine unwahrscheinlich grosse Dynamik entwickeln. Sie bringt uns eher zum Ziel, als es eiserne Selbstdisziplin jemals tun wird. St Exupery sagte: “Wenn Du willst, dass die Menschen ein Schiff bauen, lehre sie die Sehnsucht nach dem Meer.”

Die Kraft der Vision

Wenn das Ziel klar ist und es nicht nur ein Kopf- sondern ein Herzensziel ist, dann wird es Deine Einstellung prägen, so dass Du sagen kannst: “Komme was wolle, ich werde alles dransetzen, es zu erreichen.” Disziplin ist keine herausragende Eigenschaft meines Vaters. Er braucht ein klares Ziel, wenn er an etwas dran bleiben will. Nach seiner gelungenen Herzoperationen einfach nur zu trainieren, weil “man das tun sollte” oder “es gut ware” das hätte er kaum durchgezogen. Doch so war jeder Schritt, den er tat ein Schritt in Richtung seines Herzenswunsches. Aus anfänglich ein paar Schritten, bei denen er schon an die Grenzen kam wurden zwei, drei, fünf Minuten, daraus 12, 15 20, bis hin zu täglich drei bis vier Stunden, die er investierte. Immer den Gipfel vor Augen. Seinen Traum, der nunmehr nicht nur seinen Sohn, sondern auch die Enkel mit einschloss.

Auf dem Gipfel des Lebens

Am 24. September 2016 standen wir auf dem Gipfel des Glärnisch. Drei Generationen: Mein Vater, mit 80 Jahren, meine Söhne Levi und Jonatan und ich. Dort oben zu stehen und auf den Zürichsee hinunterzublicken war für uns alle ein unglaublich bewegendes Erlebnis, das sich für immer in unsere Herzen einprägen wird. Ein inspirierendes Beispiel von der Kraft der Vision, wie auch vom Vorbild eines Vaters, der nicht aufgibt, sondern sagt “es ist nie zu spät, seinem Traum nachzugehen”.

Gibt es auch einen vergrabenen Traum in Deinem Herzen, der sich eine Gelegenheit sucht, wieder an die Oberfläche zu kommen und dort seine Kraft zu entfalten?

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